Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 10. Januar 2014

the old calendar




the old calendar
tossed into the brazier
smells of last year




(den alten Kalender / ins Kohlebecken geworfen / riecht nach altem Jahr)
 
Angelee Deodhar



(Übersetzung in deutsch: Andreas Brauers)
 
***************************************************************



Kain-Kalender 1912 

Januar: Das Jahr beginnt um Mitternacht,
wenn Luft und Land vor Kälte kracht.
Der Mensch grüßt froh den Neujahrstag
und ahnt doch nicht, was kommen mag.

Februar: Der Sturm zerbricht den kahlen Ast.
Auf tobendem Meere birst der Mast.
Eis treibt zum Meer, Schnee stürzt zu Tal.
Die Menschen feiern Karneval.

März: Die Welt erwacht aus Wintersnot.
Wild kämpft das Leben mit dem Tod.
Im Freiheitssehnen schwillt das Herz.
Der Mensch erfleht sein Heil vom März.

April: Heut Regen, Wind und Hagelschlag
und morgen strahlender Sonnentag.
Der Menschheit Schicksal muß geschehn
Durch Kreuzigung und Auferstehn.

Mai: Zur Paarung drängt's die Kreatur
und neuer Samen schwängert die Flur.
Verkündend schwebt der heilige Geist
zum Menschen, der dies Liebe heißt.

Juni: Das Licht der langen Tage glänzt
auf grüne Lande bunt bekränzt.
Im warmen Sonnenschein gerät,
was für den Herrn der Knecht gesät.

Juli: Die Luft liegt glühend überm Land.
Dumpf gähnt der Himmel im Sonnenbrand.
Die Berge und die Wasser ruhn, -
der Mensch muß seine Arbeit tun.

August: Gewölk reißt donnernd und zündend entzwei.
Gelähmte Lüfte atmen frei.
Sternschnuppen fahren den Himmel entlang.
Der Herr der Erde nur seufzt im Zwang.

September: Der Boden saugt neuen Regen ein.
Die Saat trägt Früchte. Es reift der Wein.
Was weise Allmacht den Menschen gab,
der Reiche nimmt es dem Armen ab.

Oktober: Der Herbst folgt der Natur Gebot.
Die Blätter färben sich gelb und rot.
Die Vögel fliehen mittagwärts.
Den Menschen faßt ein Abschiedsschmerz.

November: Der Sturm entlaubt den Wald und gellt.
Das Meer braust auf, das Schiff zerschellt.
Den Armen beugt die Sorgenlast,
der Hunger kommt bei ihm zu Gast.

Dezember: Die Erde kleidet sich in Schnee.
Die ganze Welt ist kalt und weh.
Vor Gott sind alle Menschen gleich.
Sie träumen vom ewigen Friedensreich.


Erich Mühsam (1878 - 1934) 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen